The Audiophile Choice

Oliver Nelson: „The Blues and the abstract truth“

(Impulse! Records, 1961)

Wann immer von internationalen Musikjournalisten die besten Jazz-Platten aller Zeiten aufgelistet werden, landen mit ziemlicher Sicherheit immer die folgenden Titel auf den vordersten Plätzen, nur die Reihenfolge ändert sich manchmal: Miles Davis „Kind of Blue“, John Coltrane „A Love Supreme“, Eric Dolphy „Out to Lunch“, Cannonball Adderley „Somethin‘ Else“, Herbie Hancock „Maiden Voyage“, Ornette Coleman „The Shape of Jazz to come“, Charles Mingus „Mingus Ah Um“, Sonny Rollins „Saxophone Colossus, Thelonious Monk „Monk’s Music“, oder, damit auch mal weiße Jazzmusiker dabei sind, Dave Brubeck mit „Time Out“. Mal abgesehen davon, dass in diesen Listen der renommiertesten Jazzmagazine – von „Down Beat“ (USA) über die britischen „Jazzwise“ und „The Wire“, bis zum deutschen „JazzPodium“ – fast nie eine Platte unter den ersten zehn auftaucht, die nicht vor mindestens 50 Jahren erschien, gehören diese Titel – zusammen mit vielen anderen – unbestritten zum Besten, was die Jazzgeschichte zu bieten hat. So weit, so gut also, und über einen solchen, nie vollständigen Kanon lässt sich natürlich trefflich streiten, das ist ja der Spaß dabei. Hier soll nun aber einer Aufnahme Gerechtigkeit widerfahren, die  in den letzten Jahren zwar immer, wenn die „Top 100“ neu zusammengestellt wurden, weiter nach vorne kam, aber eigentlich längst unter den besten zehn auftauchen sollte.

Der 1932 in St. Louis geborene und leider schon 1975 an einem Herzanfall in Los Angeles gestorbene Saxofonist, Komponist und geniale Arrangeur Oliver Nelson hatte in den fünfziger Jahren als Sideman u. a. mit Kenny Dorham, Roy Haynes oder King Curtis gespielt und sogar für Qincy Jones arrangiert, als er 1961 mit Eric Dolphy, Freddy Hubbard, George Barrow, Bill Evans, Paul Chambers und Roy Haynes für eine Sternstunde ins Studio in New Jersey ging. Gleich der erste Titel, „Stolen Moments“, der mit seinem zum Niederknien schönen Thema schnell zum Standard wurde, gilt manchen Kritikern als der „vielleicht beste Blues, der jemals geschrieben wurde, auch wenn er nicht auf Anhieb als solcher zu erkennen“ sei (Rolf Dombrowski). Aber auch alle anderen Titel halten das Niveau, man kann das ganze Album auf eine Stufe mit Davis‘ „Kind of Blue“ stellen und es als eine geniale Meditation über den Blues verstehen, ihn dabei gleichzeitig abstrahiert und über sich hinaus führt, ihn gewissermaßen transzendiert.

Neben den ausdrucksstarken Kompositionen von Nelson, liegt das auch an seinen raffinierten Arrangements, in denen die Musiker seiner exzellenten All-Star-Truppe immer genau an der richtigen Stelle und im richtigen Maße auch solistisch glänzen. Freddy Hubbards sensible, aber im Vergleich zu Miles wesentlich kraftvollere Trompete, prägt das Album vielleicht am stärksten, wobei auch die anderen Stars virtuose Höhepunkte setzen und dennoch das homogene Zusammenspiel jederzeit Priorität hat. George Barrow am Baritonsaxofon hat zwar kein Solo, man hört dennoch die wichtige Funktion, die Nelson in seinen Arrangements dem Instrument gibt.

Ein Geniestreich also, wie er auch mit den besten Musikern nicht alle Tage gelingt, das zeigt auch das Nachfolgealbum „More Blues and the abstract truth“ von 1964, mit dem Nelson an seinen großen Erfolg anknüpfen wollte, was aber nicht so gut funktionierte. Der stilprägenden Platte von 1961 gebührt in jedem Fall nun endgültig ein fester Platz auf einem der vorderen Plätze der ewigen Bestenliste. Wer von den oben erwähnten Top Ten dafür nach hinten rutschen muss, kann gerne diskutiert werden, oder wir schaffen einfach die Reihenfolge als Rangfolge ganz ab.

Glücklicherweise ist „The Blues and the abstract truth“ inzwischen in verschiedenen, hochwertigen Vinyl-Ausgaben verfügbar, besonders empfehlenswert ist die Doppel-LP des Green Corner Labels, auf der die remasterten Stereo- und Mono-Abmischungen enthalten sind. Aber auch das im Mai dieses Jahres auf Impulse! wiederveröffentlichte Original ist klang- und aufnahmetechnisch die reinste Freude – musikalisch ja sowieso.

 

Thomas Neuhauser / 31. Juli 2019

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