The Swedish Radio Jazz Group – featuring John Surman
Recorded by Sverige Radio, March 28th 1974
My Only Desire Records, London 2020
Viele der Aufnahmen, die Mike Westbrook seit den sechziger Jahren mit verschiedenen Großformation eingespielt hat – um den hier überholten Begriff Bigband zu vermeiden – haben zu Recht Kultcharakter. Einige sind sehr zu Unrecht fast vergessen und manche haben leider einen festen Platz auf einer Liste der meist unterschätzten europäischen Jazzalben: Dazu gehören „Celebration“ (1967), „Metropolis“ (1971), „Love, Dream & Variations“ (1976), natürlich das epochale 3-fach-Album „The Cortège“ mit der unvergessenen Lindsay Cooper, aber auch die ergreifend gelungenen William Blake-Vertonungen wie „The Westbrook Blake“ (1980), sowie Live-Alben wie „The Orchestra of Smith’s Academy“ (1992) und die Hommage an den 2017 verstorbenen AMM-Saxofonisten Lou Gare mit dem Uncommon Orchestra: „In memory of Lou Gare“ (2018) – um nur einige von Westbrooks Großtaten zu benennen.
„Citadel / Room 315“ nimmt in Westbrooks faszinierendem und vielfältigen Gesamtwerk aus mehreren Gründen eine besondere Stellung ein. Die Komposition erschien zuerst 1975 als Studioaufnahme des mit den herausragenden Stars der britischen Jazzszene besetzten Mike Westbrook Orchestra – neben dem mit produzierenden John Surman (Baritonsax und Bassklarinette) waren die Solisten u. a. Henry Lowther und Kenny Wheeler (Trompete bzw. Fluegelhorn), Malcolm Griffiths und Paul Rutherford (Posaune), Brian Godding (E-Gitarre), Alan Wakeman (Tenorsax) und Dave McRae (Piano). Auf Augenhöhe also und punktuell auch musikalisch verwandt mit den Spitzenensembles von Keith Tippett, Graham Collier oder Willem Breuker, und wie diese ebenso bedeutend für die Emanzipation der Europäer von den amerikanischen Vorbildern. Da haben auch andere ihre Verdienste, aber anders als beim radikaleren Freiheits- bzw. Befreiungsanspruch eines Globe Unity Orchestras oder des London Jazz Composers Orchestras von Barry Guy, stehen bei Westbrook Komposition und Arrangement stärker im Vordergrund, Improvisation und solistische Freiheiten sind stets eingebunden ins Gesamtwerk. So bei der Studioversion wie auch auf der nun erfreulicherweise als hervorragend klingender Live-Mitschnitt des Schwedischen Radios erschienenen Doppel-LP – eine höchst erfreuliche Ausgrabung.
Ein Jahr bevor sie mit dem eigenen Orchestra ins Studio gingen, also 1974, treten Westbrook und Surman hier mit der Swedish Radio Jazz Group auf und spielen das Ganze bereits mit der exakt gleichen Abfolge der einzelnen Stücke. Es gibt natürlich Unterschiede, Surmans legendäres, weil in seiner Sanftheit, Sensibilität und Intensität unübertroffenes Baritonsax-Solo aus „View from the drawbridge“ z.B. – das zum wesentlich Kultstatus des Studioalbums gehört – wirkt hier noch etwas zurück genommener, noch nicht ganz so ausgereift. Dafür staunt man über ein virtuoses Althorn-Solo von Jan Allan, wie überhaupt über die mitreißende Kraft und Spielfreude der damals jungen schwedischen Musiker und das beeindruckende Zusammenspiel der 16 Musiker, die Westbrooks Komposition und seine Arrangements perfekt umsetzen. Eine schöne Entdeckung und glücklich machende Aufnahme in Westbrooks bedeutender Diskografie, insbesondere wenn man Studio- und Live-Aufnahme nacheinander hört, egal in welcher Reihenfolge.
Thomas Neuhauser / 2. 6. 2020